Die 2010er Jahre waren weltweit ein großartiges Jahrzehnt für die Architektur. Als sich die westliche Welt langsam von der 2008er Rezession erholte und Umweltschutzaspekte immer mehr in den Fokus traten, wurden viele Projekte stärker auf das Wesentliche reduziert und kritischer unter die Lupe genommen. Der kometenhafte Aufstieg der Digitalisierung und neuer Gebäudetechnologien – wie zum Beispiel das Internet der Dinge (IoT) – ebnete den Weg zu intelligenteren, grüneren Gebäuden. Gleichzeitig hat das zunehmende Bewusstsein für Themen wie Nachhaltigkeit, Barrierefreiheit oder Gleichberechtigung eine neue Generation von Architekten inspiriert. In Vorstandsetagen und Architekturkonferenzen wurde mehr denn je über Themen wie kulturelles Feingefühl und kulturelle Identität gesprochen.
Die letzten zehn Jahre markierten auch den unaufhaltsamen Aufstieg Asiens und anderer Schwellenländer. Da diese Volkswirtschaften sich mit der raschen Urbanisierung und dem demografischen Wandel auseinandersetzen müssen, versuchten einige der ehrgeizigsten Architekturprojekte des Jahrzehnts, auf diese Bedürfnisse besonders einzugehen.
Im Rückblick auf diese Ära wurden einige der beeindruckendsten Architekturprojekte des Jahres 2019 betrachtet, die viele Tendenzen des nun vergangenen Jahrzehnts aufzeigen. Diese Gebäude sind nicht nur wegen ihrer ästhetischen und funktionalen Besonderheiten von entscheidender Bedeutung, sondern auch, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt der 2010er Jahre widerzuspiegeln.
Internationaler Flughafen Peking Daxing (Peking, China)
Auch wenn die legendäre britisch-irakische Architektin Zaha Hadid 2016 verstorben ist, prägten ihre Vision und ihr Vermächtnis die Architekturwelt weiter. Von Hadid selbst entworfen und von Patrik Schumacher, dem Direktor von Zaha Hadid Architects, ins Leben gerufen, wurde 2019 der Peking Daxing International Airport eingeweiht.
Das 700.000 Quadratmeter große Terminal in Form eines Riesenseesterns kann durch seine 79 Gates satte 45 Millionen Passagiere bedienen. Das Design orientiert sich an den Prinzipien der traditionellen chinesischen Architektur, das heißt, dass alle Wege der jeweiligen Abflug-, Ankunfts- oder Transferzonen zum großen Innenhof in der Mitte führen. So erreichen eilige Passagiere innerhalb von acht Minuten zu Fuß auch die entferntesten Gates.
Zudem ist dieses exquisite Design effizient: Unterstützt durch Sonnenkollektoren und eine zentrale Heizungsanlage, sammelt und nutzt das Gebäude auch Regenwasser.
Vessel (New York City, USA)
Diese futuristische Skulptur ähnelt einer riesigen Wabe. Gelegen in Manhattan, New York City, begrüßt sie seit März 2019 die Besucher und lädt dazu ein, ihre 154 Treppen zu erklimmen.
Das Vessel wurde vom britischen Designer Thomas Heatherwick entworfen und hat einen interaktiven Charakter. Es lädt die Besucher ein, die Konstruktion gemeinsam zu erklettern und zu erkunden, um soziale Kontakte in einer Zeit der wachsenden Isolation zu fördern. Aus verschiedenen Blickwinkeln und Höhen bietet die spiralförmige Treppe neue Perspektiven auf die Stadt.
Laut seinen Schöpfern ist es schwierig, das Vessel architektonisch zu spezifizieren. Während eines Rundgangs beschrieb Stuart Wood, Gruppenleiter und Partner des Heatherwick Studios, das Bauwerk vor Journalisten als „kein Gebäude, keine Skulptur, kein Kunstwerk, und dennoch hat es Außmaß und Relevanz für all diese Typologien“. In gewisser Weise sieht er dieses neue öffentliche Wahrzeichen „als ein Möbelstück, dass fortlaufend verwendet wird und sich weiterentwickeln wird“.
Nationalmuseum von Katar (Doha, Katar)
Dieses Museum, das sich der Geschichte von Katar widmet, steht zwischen dem Meer und den Wolkenkratzern von Doha. Es öffnete seine Türen für Besucher im März 2019. Der französische Architekt Jean Nouvel entwarf den Komplex als Neuinterpretation der katarischen Landschaften und des Fortschritts der letzten Jahrzehnte.
Mit Dünen, überschwemmten Feldern und Gärten, die von Sabkhas und Oasen inspiriert sind, ist der Entwurf des Gebäudes ein Verweis auf die raue Wüste, in der die Menschen von Katar jahrhundertelang gelebt haben.
Die Struktur ist einer Wüstenrose nachempfunden, einer blütenähnlichen Mineralkristallisation, die unter der Golfsonne entsteht. Sie verfügt über geschwungene, einander schneidende Scheiben und freitragende Winkel und gilt als Ausdruck der arabischen kulturellen Identität. So sollen sowohl Besucher als auch Gäste über die Vergangenheit, die Gegenwart und den Status Katars in der Welt aufgeklärt werden.
Pandahaus (Frederiksberg, Dänemark)
Im November 2019 haben die dänischen Architekten Bjarke Ingels Group einen ying-yang-förmigen Anbau des Kopenhagener Zoos fertiggestellt, um ein Zuhause für die beiden riesigen Pandas aus Chengdu, China, zu schaffen.
Pandas zählen vermutlich zu den beliebtesten Säugetieren der Welt. Aber sie gehören auch zu den seltensten und sind vom Aussterben bedroht. Ein Grund dafür ist, dass sie sich so selten fortpflanzen: denn Voraussetzung, um sich zu paaren, sind optimale Umgebungsbedingungen. Um diese gestalten zu können, haben die Designer des Pandahauses eng mit Zoologen zusammengearbeitet und im Resultat den idealen natürlichen Lebensraum für Pandas nachgeahmt: hier können sie unbeschwert leben und sich vermehren.
Außerhalb der Paarungszeit sind Pandas Einzelgänger. Die Designer beschlossen daher, beim Grundriss Ying und Yang – die Symbolik für eine männliche und eine weibliche Seite, die sich komplementär zu einem kreisförmigen Ganzen zusammenfügen – wörtlich zu interpretieren, indem sie es in getrennte Wohnbereiche für den männlichen und den weiblichen Panda „übersetzten“. Dieses Ying-Yang umfasst auch zahlreiche Felsen, Kletterbäume sowie diverse Pflanzen- und Bambusarten, die die Ernährungs- und Lebensbedürfnisse der Pandas befriedigen.
Leonardo (Johannesburg, Südafrika)
Der 234 Meter hohe Wolkenkratzer liegt im Johannesburger Vorort Sandton, dem führenden Wirtschafts- und Finanzzentrum Südafrikas. Ende 2019 fertiggestellt, ist Leonardo heute das höchste Gebäude Afrikas.
Die Co-Arc International Architects bauten dieses 55 Stockwerke hohe Gebäude, das eine Mischung aus verschiedenen Funktionen wie Geschäften, Büros, Wohnsiedlung und Hotels beherbergt. Für die Außenverkleidung verwendeten sie dünne Dektonplatten.
Bemerkenswert ist, dass neun von elf Architekten, die am Leonardo arbeiteten, Frauen waren – in einem Land, in dem nur jeder fünfte Architekt eine Frau ist.
Patrick McInerney, Direktor bei Co-Arc International Architects, äußerte, dass Leonardo ein „Leuchtturm der Hoffnung“ für Architektur und Entwicklung auf dem Kontinent sein könnte.
Neue Anden-Architektur (El Alto, Bolivien)
El Alto, die zweitgrößte Stadt Boliviens, hat viele der typischen Herausforderungen erlebt, denen sich die urbanen Zentren in den Schwellenländern stellen müssen. Unmittelbar westlich von La Paz gelegen, zu dem es bis 1985 als Stadtteil gehörte, ist sie eine der am schnellsten wachsenden Metropolen Südamerikas. In den 1960er Jahren ist ihre Bevölkerung von 30.000 auf heute eine Million Einwohner gestiegen. Bis zum Jahr 2050 wird ein Anstieg auf 2,5 Millionen erwartet.
Die bolivianische Stadt, die auf Spanisch „Die Höhe“ oder „Die Anhöhe“ bedeutet, liegt auf 4.000 Metern und ist damit die höchste Metropole der Welt. Sie verfügt zudem über eine ausgeprägte Andenkultur: 75 Prozent der Einwohner gehören zur indigenen Andengruppe der Aymara, womit El Alto die Stadt mit der höchsten Dichte indigener Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika ist. Mit der raschen Verstädterung und den damit verbundenen Herausforderungen hatte El Alto sich jedoch den Ruf erworben, eintönig, häßlich und von seiner reichen Kultur abgekoppelt zu sein. Freddy Mamani, selbst unter anderem als „autodidaktischer Architekt“ sowie durch seine „Transformer-Architektur“ bekannt geworden, widmete sein Genie und seine Karriere genau diesem Umstand.
Im Jahr 2019 wurden mehrere von Mamanis Projekten in Betrieb genommen. Elemente der Andenkultur, von gewebten Textilien bis hin zu mythischen Darstellungen von Kondoren und Pumas, inspirieren Mamani zu den extravaganten und schrägen Bauten. Mehr als siebzig Gebäude verleihen so den Straßen von El Alto weiterhin Farbe und Persönlichkeit.
Vertikaler Wald von Nanjing (Provinz Jiangsu, China)
Der vertikale Wald von Nanjing ist eine Idee des berühmten italienischen Architekten Stefano Boeri und eines der ehrgeizigsten Beispiele für nachhaltige Stadtentwicklung.
Während des gesamten Bauprozesses bis Ende 2019 sahen die Wohntürme noch recht unscheinbar aus. Doch laut Aussage des Architekten stehen auf einer Fläche von 4.500 Quadratmetern an den Fassaden 600 große und 200 mittelgroße Bäume von 27 lokalen Arten, sowie weitere 2.500 Hängepflanzen und Sträucher . Diese Pflanzen absorbieren 25 Tonnen Kohlendioxid pro Jahr und produzieren etwa 60 Kilogramm Sauerstoff pro Tag.
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sterben jährlich rund 7 Millionen Menschen vorzeitig an den Folgen der Luftverschmutzung. In der Funktion einer „grünen Lunge“ könnte die Ausbreitung solcher vertikalen Wälder im Bereich Wohnen weltweit viele dieser negativen Auswirkungen abmildern.
Die 2020er Jahre: Ein Jahrzehnt des Handelns und der Neuerungen
Diese beeindruckenden Architekturprojekte am Ende des Jahrzehnts definieren neue Möglichkeiten, sind zukunftsweisend und bringen buchstäblich frischen Wind in die Branche.
Die globalen Herausforderungen, der anhaltende soziale und wirtschaftliche Fortschritt sowie die sich abzeichnenden Lösungen, werden die Architektur zweifellos auch im Jahr 2020 und darüber hinaus prägen. Trotz starker Beeinflussung – sowohl durch Trends als auch durch die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft – verfügt Architektur über die einzigartige Fähigkeit, sowohl Ursache als auch Ergebnis technologischer und sozialer Innovationen zu sein.